Ich kann zwei Minuten in die Zukunft sehen.
Das Leben ist eine Abfolge ungenutzter Möglichkeiten. Jedesmal, wenn wir uns entscheiden, haben wir mindestens eine andere Möglichkeit nicht genutzt.
Wenn wir eine Routine haben, Dinge aus Gewohnheit tun, weil wir sie eben so tun, dann fallen uns diese Möglichkeiten gar nicht mehr auf. Manchmal dagegen denken wir, „Was wäre, wenn ich jetzt das und das tun würde?“. Aber größtenteils machen wir es dann doch nicht. Weil es immer Gründe gibt, etwas nicht zu tun.
2007 kam der Film „Next“ mit Nicolas Cage, Julianne Moore und Jessica Biel in die Kinos. Ich mag ihn, verstehe aber auch, wenn man ihn schrecklich findet. Spannend bleibt die Grundidee: Chris (Nicolas Cage) hat die Fähigkeit, zwei Minuten in die Zukunft zu sehen. Er weiß, dass er immer mehrere Möglichkeiten hat und sieht die Konsequenzen seiner Entscheidung, zumindest für zwei Minuten. Die Idee stammt aus einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick, „Der goldene Mann”. Die Story ist dort ganz anders, aber die Idee die gleiche:
In einem kurzen Abschnitt schildert Dick das Innenleben von Cris, wie er die sich verzweigenden Möglichkeiten der Zukunft fächerartig vor sich sieht, die nahe Zukunft deutlicher, die entfernte Zukunft schwächer.
In der Kurzgeschichte (die englische Fassung ist frei verfügbar) sind es sogar zehn Minuten, aber bleiben wir bei zwei. Hört sich wenig an, ist in vielen Fällen aber vollkommen ausreichend. Denkt drüber nach, wieviele Unfälle und Ungeschicke, Fettnäpfchen und komischen Situationen ihr hättet vermeiden können, hättet ihr die folgenden zwei Minuten gewusst. Oder wieviele Möglichkeiten ihr wahrgenommen hättet, welches Mädchen doch geküsst, welche Frage mit Ja beantwortet, welche Würfel doch nochmal geworfen, wenn ihr gewusst hättet, wie es kurzfristig weitergeht.
Ich mag diese Idee und wenn ich jemals mit einer Superheldenkraft ausgestattet werde, dann mit dieser. Aber je länger ich drüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich die Fähigkeit gar nicht brauche, um zumindest so zu handeln, als hätte ich sie.
Wie oft habt ihr schon gesagt, „Ich hab’s vorher noch gedacht!“? Die Tasse steht ganz schön nah an der Kante. Das Kabel liegt gefährlich. Hoffentlich kommt jetzt kein Auto um die Ecke, wenn ich da mit dem Fahrrad runterrase. Und wie oft dachtet ihr schon, „Ach hätte ich’s doch getan.“? Das Mädchen geküsst. Das Angebot angenommen. Das Risiko eingegangen.
Seit ein paar Monaten also mache ich zwei Sachen.
- Wenn ich denke, da könnte etwas passieren, dann schiebe ich die Tasse weiter auf den Tisch. Stecke ich das Kabel um. Halte meine Hand zwischen den Kopf eines Freundes und die Kante des offenen Fensters. Ich weiß natürlich nicht, ob der Fall wirklich eingetreten wäre. Aber ich will die Möglichkeit ausschließen.
- Ich versuche, selbst in der Routine und dem gewohnten Ablauf die Möglichkeiten bewusst zu machen. Mich bewusst für einen Weg zu entscheiden. Meist die Wege, die ich sowieso gegangen wäre, manchmal ganz neue.
Ich weiß nicht, ob mein Leben dadurch besser geworden ist. Weiß noch nichtmal, ob irgendetwas Schlimmes verhindert habe. Aber in solchen Momenten fühle ich, dass ich entscheiden kann. Ich lebe bewusster. Dafür lohnt es sich, zwei Minuten in die Zukunft zu sehen.
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